Revolution in Russland? Ausgeschlossen!


Jewgenij Lewkowitsch
Vor 100 Jahren besiegelte die Russische Revolution das Ende des Zarenreichs. Um die damaligen Ereignisse nachzuverfolgen, hat RBTH-Autor Jewgenij Lewkowitsch Sankt Petersburg besucht. Auch um mit den Petersburgern darüber zu sprechen, ob sie sich an einer Revolution beteiligen würden, wenn heute eine ausbräche.
„Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Aber eigentlich wundert es mich nicht… Alles Übel kommt immer von den Weibern", sagt ein junger Wachmann am Eingang der Sankt Petersburger Garn- und Faserfabrik, die nach Sergej Kirow, einem bedeutenden Revolutionär, benannt wurde. Der Wachmann Nikolaj weiß nicht, wer Kirow war. Ihm ist auch unbekannt, dass die Massenproteste von vor 100 Jahren in Sankt Petersburg – damals Petrograd – in eben jener Fabrik begannen, die er heute bewacht.
Sankt Petersburger Garn- und Faserfabrik
Am 23. Februar 1917 gingen die Arbeiterinnen der damaligen Fasermanufaktur Newskaja auf die Straße – um kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne, die Rückkehr ihrer Ehemänner von der Front und eine ordentliche Brotversorgung ihrer Stadt einzufordern.

Der Manufakturdirektor schrieb in seinen Memoiren, er habe versucht, die Frauen von der Kundgebung abzuhalten, doch sie hörten nicht auf ihn. Die Arbeiterinnen protestierten nahezu rund um die Uhr. Wenige Tage später schlossen sich ihnen die Arbeiter der Putilow-Werke an. Auch diese Fabrik trägt heute den Namen des berühmten Kirow. Binnen weniger Tage versammelten sich 240 000 Menschen zu Protesten auf den Straßen Sankt Petersburgs. Sie wurden von einem Großteil jener Soldaten unterstützt, die von der Front zurückgekehrt waren.
Mit der 47-jährigen Nina, einer Vorarbeiterin der Garn- und Faserfabrik, treffe ich mich erst nach Feierabend, da ich das Fabrikareal nicht betreten darf.

60 Prozent aller Fasern und Garne in Russland kommen aus dieser Fabrik, in ihrer Branche ist sie also die größte des Landes. In Ninas Gehalt spiegelt sich das aber nicht wider: Sie verdient 26 000 Rubel im Monat, umgerechnet 400 Euro.
Zum Vergleich: 1917 verdiente ein einfacher Arbeiter in Petrograd 37,5 Zarenrubel. Das wären heute umgerechnet 66 500 Rubel, rund 1 020 Euro – das Dreifache von Ninas Lohn (siehe RBTH-Check).
„Und? Sind Sie damit zufrieden?" will ich wissen.

„Man will ja immer etwas mehr, aber ich kann mich nicht beschweren", sagt Nina.

Wir rechnen nach, wieviel sie monatlich ausgibt: 2 900 Rubel, rund 45 Euro, für eine Monatskarte des Nahverkehrs; 4 500 Rubel, 70 Euro, für die Nebenkosten; 10 000 Rubel, also 154 Euro, gibt Nina ihrem 15-jährigen Sohn für das Schulessen, die Kleidung, das Kino und die Geschenke an seine Klassenkameraden. Ungefähr die gleiche Summe gibt sie für Lebensmittel für die ganze Familie aus. Ninas Ehemann starb vor zwei Jahren, sie lebt zusammen mit ihrem Sohn und ihrer pflegebedürftigen Mutter. Diese existenziellen Ausgaben übersteigen bereits ihr monatliches Einkommen.

„Wie machen Sie das denn bloß?" frage ich.

„Meine Mama bekommt Rente. Das hilft uns. Manchmal muss ich mir von meinen Kollegen etwas leihen. Aber irgendwie kommen wir über die Runden", sagt Nina.
*In der Zarenzeit galt der Goldstandard: Jeder Rubel enthielt 0,774235 Gramm Gold. Der Monatslohn eines Arbeiters entsprach 29,0338125 Gramm des Edelmetalls. Im Januar 2017 kostete ein Gramm Gold 35,20 Euro. Dementsprechend wäre der Monatslohn eines Arbeiters von 1917 heute rund 1 020 Euro wert.
Über die Revolution von 1917 weiß Nina nur, dass damals viel Blut vergossen und der Zar ermordet wurde. Und das alles sei schlecht. Denn: „Blut, das ist immer schlecht", sagt sie. „Für die Politik interessiere ich mich überhaupt nicht. Ich bin in der Sowjetunion groß geworden. Wenn es Schwierigkeiten im Leben gab, sagten meine Eltern nur: „Hauptsache, es gibt keinen Krieg". Und das sehe ich auch so. Gucken Sie mal, was in der Ukraine passiert, nach ihrer Revolution: Blut und Elend. Meinetwegen soll bei uns alles so bleiben, wie es ist. Die Hauptsache ist, das passiert bei uns nicht. Die Geschichte nimmt doch einfach ihren Lauf."
Die meisten Mitarbeiterinnen dieser einst revolutionären Fabrik, mit denen ich gesprochen habe, denken ungefähr genauso wie die Vorarbeiterin Nina. Protestieren – und sei es gegen Niedriglöhne – haben sie ganz bestimmt nicht vor.
1. Die Sampson-Kathedrale
Im Februar 1917 zog eine Horde von mehreren tausend Revolutionären durch den Bolschoi-Sampsonijewski-Prospekt mit der Sampson-Kathedrale und zerstörte alles, was ihr im Weg stand. Wie durch ein Wunder hat die Kathedrale überlebt. Nach der Revolution wurde sie in ein historisches Museum umgewandelt. Die Straße wurde aufgrund ihrer Nähe zum Lenin-Platz zu Ehren von Karl Marx umbenannt – der Weg zwischen den beiden Orten nannte der Volksmund übrigens „vom Bart zum Glatzkopf". Heute ist alles wieder beim Alten – der Prospekt trägt wieder seinen alten Namen und die Kathedrale wurde an die russisch-orthodoxe Kirche zurückgegeben.
2. Kirow-Spinnerei
Im Grunde begann die Revolution hier. Frauen, die in der Fabrik arbeiteten, waren unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen und den niedrigen Löhnen. Sie gingen auf die Straße und schwenkten Plakate mit Aufschriften wie „Nieder mit dem Zaren!" und „Nieder mit dem Krieg!". Ein paar Tage später schlossen sich Arbeiter des Putilowwerks und Soldaten verschiedener militärischer Einheiten an. Ein Teil des Gebäudes ist heute noch immer im Besitz einer Spinnerei. Im anderen Teil befindet sich eines der teuersten Restaurants der Stadt, die Buddha-Bar. Ein Glas durchschnittlichen Sekts kostet hier 1 200 Rubel (knapp 20 Euro).
3. Das Kirowwerk
Bis 1917 war das damalige Putilowwerk der einzige Hersteller von gepanzerten Fahrzeugen für die Reichsarmee, die zu dieser Zeit an vorderster Front kämpfte. Etwa 36 000 Arbeiter waren angestellt. Am 18. Februar 1917 traten alle in einen Streik, der nach fünf Tagen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führte. Die Arbeiter gewannen diesen Kampf.
4. Taurisches Palais
Vor 1917 beherbergte das Taurische Palais die Staatsduma, die im Februar von einer Schar Soldaten und Arbeitern aufgelöst wurde. Der rechtskonservative Monarchist und Mitglied der Duma, Wassili Schulgin, erzählte später, dass die Soldaten, die das Gebäude stürmten, alle Silberlöffel aus dem Café gestohlen hätten. Heute befindet sich im Palais das Hauptquartier der interparlamentarischen Versammlung der GUS-Mitgliedsstaaten und der Parlamentarischen Versammlung über kollektive Sicherheit. Das Palais wird rund um die Uhr bewacht.
5. Alexander III.-Denkmal
Unter Alexander III. führte Russland zwar keine Kriege und erlebte eine industrielle Revolution. Innenpolitisch zog der Zar jedoch die Schrauben fest an und regierte mit politischen Repressalien. Deshalb wurde das Alexander-Denkmal, das zu dieser Zeit im Herzen der Stadt – in der Nähe des heutigen Moskowski-Bahnhofs – stand, zum Ziel der Revolutionäre. Nach der Revolution wurde Demjan Bednys Gedicht „Die Vogelscheuche" auf dem Sockel angebracht. Später wurde ein Metallkäfig um das Denkmal errichtet, 1937 wurde die Statue demontiert. Heute steht sie auf dem Gelände des Russischen Museums und darf nur mit besonderer Genehmigung fotografiert werden.
6. Peter-und-Paul-Festung
Im zaristischen Russland saßen politische Gefangene und bekannte Revolutionäre im Trubezkoi-Gefängnis auf dem Gelände der Peter-und-Paul-Festung ein. Vorausgesetzt, sie konnten mit Brot und Wasser überleben und wurden nicht vor 1917 hingerichtet. Zu den bekanntesten Insassen zählen Lenins älterer Bruder Alexander, Leo Trotzki und Fürst Kropotkin. Auch nach der Revolution fand das Gefängnis Verwendung – diesmal saßen hier die Anhänger des Zaren ein.
Vergleicht man das heutige Russland mit dem Leben am Vorabend der Revolution, fallen viele Parallelen auf: beträchtliche Militärausgaben, eine Handelsblockade durch Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei, Inflation (bis Ende 1916 waren die Preise im Vergleich zur Vorkriegszeit um das Dreifache gestiegen). Der Polizeipräsident des russischen Innenministeriums betonte in seinem Bericht über die gesellschaftliche Stimmung damals, dass „die monströsen Verteuerungsraten die Hauptursache für die Verbitterung" gewesen seien.
Kurz gefragt: Petersburger über die Revolution:
Diese Parallelen lassen durchaus vermuten, dass die Verhältnisse im heutigen Russland instabil sind. Doch diese Rechnung wäre ohne das einfache Volk gemacht. Die überwältigende Mehrheit der Sankt Petersburger, die wir befragt haben – über 90 Prozent, um genau zu sein – sind gegen jedwede revolutionäre Einmischung in die Geschicke des Landes, obwohl bei weitem nicht alle mit ihrem heutigen Leben und mit der heutigen Führung zufrieden sind. Die einen bestehen darauf, dass Blutvergießen nicht in Frage komme; die anderen sprechen sich für eine schrittweise Entwicklung aus; wiederrum andere sehen schlicht keine Alternative zum Status quo.
Auf den Spuren des Arbeiteraufstandes von 1917 komme ich zur Sampsonijewski-Kathedrale. Hier, auf dem Kirchenvorplatz, versammelten sich die Demonstranten, Frauen aus der Fasermanufaktur und Männer aus den Putilow-Werken.
Vor 100 Jahren waren sie kurz davor, die Kathedrale dem Erdboden gleichzumachen: Die meisten von ihnen waren militante Atheisten. Erst 1935 wurde das Kirchengebäude unter Denkmalschutz gestellt. In den Innenräumen wurde ein Revolutionsmuseum eingerichtet.

Nun soll die Kathedrale an die Russisch-Orthodoxe Kirche zurückgegeben werden – wie auch zahlreiche andere Bauwerke, die einst ihr gehört haben. Just einen Tag vor der symbolischen Schlüsselübergabe verlassen wir Sankt Petersburg.

Vorher aber sehen wir uns die Kathedrale von innen an: Drei Gemeindemitglieder beten, drei Museumsmitarbeiterinnen stehen etwas verloren da. Das Museum werde ja nun geschlossen. Ihnen drohe die Entlassung und sie wüssten nicht, wohin, sagt Maria, eine der Mitarbeiterinnen. Die letzten Exponate des Revolutionsmuseums – Archivbilder von 1917 – seien bereits eingelagert worden. Was damit nun geschehe, wüsste keiner.
Kurz gefragt: Petersburger über die Revolution:
Doch auch Maria, die sich selbst als Atheistin bezeichnet und sich klar gegen die Übergabe der Kathedrale an die Kirche ausspricht, lehnt die Revolution von 1917 entschieden ab: „Meine Familie wurde infolge der Revolution gespalten. Einer meiner Großväter war ein wohlhabender Bauer, der andere ein Knecht. Die beiden kämpften im Bürgerkrieg gegeneinander. Seitdem wollten sie nichts voneinander wissen – sie nicht und ihre Familien nicht. Das kann doch nicht gut sein!"



Im Innenraum der Sampson-Kathedrale
Ich frage, ob Maria sich an einer Revolution beteiligen würde, um ihren alten Job wiederzubekommen, dem sie ganze 20 Jahre ihres Lebens gewidmet hatte. „Selbstverständlich nicht. Revolution in Russland heißt immer Blutvergießen. Anders geht es bei uns nicht. Wir sind halt so ein Volk: Erst machen wir was, dann denken wir darüber nach. Keine einzige Idee ist es wert, den Frieden zu opfern, der gerade unter uns herrscht, auch wenn das ein sehr brüchiger Frieden ist", sagt sie.

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