POMPÖSE PFLICHT: DIE BÄLLE DER ZARENZEIT

Bei kaum einem anderen Ereignis war die Etikette so wichtig.

Darja Warlamowa
Die höfische Tradition der Bälle brachte Peter der Große neben vielen anderen Neuerungen von einer Europa-Reise mit nach Russland und läutete damit eine neue Ära ein.
Von Assembleen bis zum Ball
Klawdij Lebedew, "Assemblee am Hof von Peter des Großen". Quelle: Iwanowo-Verein der Kunstmuseen
В 1718 führte der Zar per Erlass sogenannte Assembleen ein, nach deren Muster sich später die Adelsbälle als gesellschaftliches Ereignis etablierten.

Viele Bojaren jedoch missbilligten diese neue Kultur als anstößig, die üppigen Trinkgelage in Verbindung mit dem Tanz belasteten außerdem nicht selten die Gesundheit. Dennoch erfreuten sich Bälle zunehmender Beliebtheit.

Peter selbst ging seinen Untertanen, deren Europäisierung er nach Kräften förderte, mit gutem Beispiel voran. Er und seine Frau, die künftige Zarin Katharina I., waren hervorragende Tänzer.
Fragment eines Bildes von Stanislaw Chlebowski "Assemeblee bei Peter dem Großen", 1858. Quelle: Russisches Museum, Sankt Petersburg
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Gesellschaftliche Pflicht
Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die Kultur der Bälle Hochkonjunktur. Traditionell erstreckte sich die Saison von Weihnachten bis zum letzten Tag der Butterwoche (Ende Februar/Anfang März). In der restlichen Zeit des Jahres wurden Bälle zu besonderen Anlässen veranstaltet. Sie fanden meist in Petersburg statt und waren für Angehörige des Adels mehr Pflicht als Vergnügen.

Außer der Zarenfamilie, dem Hofstaat, bürgerlichen Beamten und namhaften Ausländern mussten auch Gardeoffiziere, jeweils zwei einer Truppe, die höfischen Feste besuchen. Man brauchte sie als Tanzpartner – schließlich erschienen die Adelsfamilien mit Frauen und Töchtern.
1. Eine Offiziersuniform aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die dem Zaren Nikolai I. gehörte.
2. Eine Lorgnette, hergestellt im Fabergé-Werk 1904-1908. Quelle: Fabergé-Museum in Sankt Petersburg

Sachar Pitschugin, "Ball der Aristokratie". Ein Bild aus Tolstoijs Roman "Anna Karenina", herausgegeben 1914 in Moskau.
Ein Ballkleid von Kaiserin Alexandra Fjodorowna.
Österreich, Wien,
1900-1901.
Werkstatt «G. & E. Spitzer»
"Die Bälle oblagen einer strengen Ordnung. „Das Beherrschen der Tanzkunst war eine wertvolle Auszeichnung und wichtiger Erfolgsfaktor nicht nur auf dem Parkett, sondern auch für die Karriere", schrieb der Historiker Wladimir Michnewitsch.

Die hohe Kunst des Tanzens und das Wissen um die Etikette erwarben Angehörige des Adels daher schon im zarten Alter von fünf oder sechs Jahren.

Da es sonst nicht viele Gelegenheiten zur Zerstreuung gab, entwickelten sich Bälle zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens – hier suchte man nach Gönnern, wurden aktuelle und philosophische Fragen diskutiert, Geschäfte abgeschlossen, auf Bällen verliebte man sich und stellte Heiratsanträge.

Einladungen zum Ball wurden sieben bis zehn Tage im Voraus verschickt. Die Damen sollten genug Zeit haben sich einzukleiden – es war nicht üblich, ein Ballkleid häufiger als ein- bis zweimal zu tragen. Manchmal wurden Themenbälle veranstaltet, die spezielle Farben oder einen besonderen Stil erforderten.
1. Ohrringe, Anfang des 20. Jahrhunderts. Quelle: Fabergé-Museum in Sankt Petersburg
2. Ein Fächer von Kaiserin Alexandra Fjodorowna. Österreich, Wien, Werkstatt «G. & E. Spitzer»
3. Eine Fabergé-Brosche, hergestellt 1904-1908, Fabergé-Museum in Sankt Petersburg
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Наряды
Eine Szene aus der BBC-Serie "Krieg und Frieden", Großbritannien, 2016
Jede Dame führte ein Ballbüchlein bei sich – Carnet oder Agenda –, in das sie die Namen der Kavaliere eintrug, die mit ihr tanzen wollten. Es galt als äußerst ungebührlich, zwei Kavalieren den gleichen Tanz in Aussicht zu stellen. Die Herren erschienen in Frack, Smoking und Anzug (je nach der Mode der Zeit), Militärs konnten ihre Uniformen tragen. Für Debütantinnen waren weiße oder pastellfarbene Kleider vorgeschrieben, ein Minimum an Schmuck und schlichte Frisuren. Verheiratete Damen hatten freie Farbwahl und mussten sich auch mit dem Schmuck nicht zurückhalten.
Natascha Rostowa (Lily James) auf ihrem ersten Ball in der neuen britischen Verfilmung von Lew Tolstois „Krieg und Frieden"
„Die beiden jungen Mädchen, beide in weißen Kleidern, mit den gleichen Rosen im schwarzen Haar, machten in gleicher Weise ihren Knicks, aber unwillkürlich ließ die Hausherrin ihren Blick länger auf der schlanken Natascha ruhen. Sie betrachtete sie und lächelte ihr besonders zu, noch über das Lächeln hinaus, das sie als Hausherrin allen zeigte. Beim Anblick dieses jungen Mädchens erinnerte sie sich vielleicht an ihre eigene goldene, nie wiederkehrende Mädchenzeit und an ihren ersten Ball", so beschrieb Lew Tolstoi die Kleiderordnung für Bälle in „Krieg und Frieden".
Ein Ausschnitt aus dem Film "Krieg und Frieden" von Robert Dornhelm, 2007.
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Ersehnte Mazurka
Die Ballsäle waren für ihr aristokratisches Publikum mit einer großen Anzahl an Wachskerzen illuminiert, was für große Hitze sorgte. Um einander nicht mit den verschwitzten Händen zu berühren, war es üblich, Handschuhe zu tragen. Die Saalmitte war für den Tanz reserviert, zu beiden Seiten standen erhöht Tische, an denen die Gäste sich beim Kartenspiel erholen oder über das andere Publikum plaudern konnten.

Über die Tanzordnung wachte ein Zeremonienmeister. Der Ball begann mit einer feierlichen Polonaise, die sich über eine ganze Stunde hinziehen konnte. Sie wurde von den Gastgebern und ihren wichtigsten Gästen angeführt. Es folgten Walzer, Wengerka, Krakowiak, ein Pas de Quatre und andere Tänze. Danach kamen Quadrillen, bis schließlich der wohl am heißesten ersehnte Tanz, die Mazurka, angekündigt wurde.

Im Anschluss war Gelegenheit, sich seinem Partner intensiver zuzuwenden. Der Kavalier führte seine Dame zum gedeckten Tisch, um sich dort ausgiebig mit ihr zu unterhalten und ihr Komplimente zu machen. Aus diesem Grund ist es für Kitty aus Tolstois „Anna Karenina" ein so dramatischer Schlag, als Wronski die Mazurka mit Karenina tanzt.

Nach dem Essen wurde der letzte Part (der lockerste) eingeleitet, Kotillon und Russkaja Pljaska. Die Musik verstummte, wenn der Hausherr das Zeichen gab, und die Gäste machten sich auf den Heimweg.
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Das letzte Fest
Gäste des letzten Balls der Romanows im Jahr 1903.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts ebbte die Mode der Tanzfeste allmählich ab. Zum letzten großen Kostümball des zaristischen Russlands wurde Ende Februar 1903 in die Eremitage geladen. Die Teilnehmer dieses berühmten Balls trugen Kostüme im Stil des 17. Jahrhunderts. Auf Wunsch von Zarin Alexandra Fjodorowna wurden sie für ihr Album in Fotos festgehalten.
Gäste des letzten Balls der Romanows im Jahr 1903.
„Während wir tanzten", erin­nerte sich der Großfürst Alexander Michaj­l­­owitsch, „streikten in Petersburg die Arbeiter und die Wolken im Fernen Osten zogen sich bedrohlich zusammen."
Ein Jahr später sollte der Russisch-Japanische Krieg ausbrechen. Als die Russische Revolution von 1905 und die Weltwirtschaftskrise schließlich das Ende des Russischen Reiches heraufbeschworen, dachte am Petersburger Hof niemand mehr an Bälle.
Eine Szene aus dem Film "Matilde" von Aleksej Utschitel (2017). In dem Film geht es um die Liebe des letzten russischen Zaren zu einer Balletttänzerin.
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Text von Daria Warlwmowa
Bildquellen: Fabergé-Museum in Sankt Petersburg, Eremitage, Dmitrij Kardowskij, Michj Sitschi, Archivbilder/CGACPPD, W.Sewastjanow/Filmstudio "Rock", Mitch Jenkins, Kaia Zak, Laurie Sparham/BBC, Shutterstock/Legion Media,
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